01.06.2024
Die Internationalen Deutschen Meisterschaften (IDM) im Para Schwimmen in Berlin sind eine Sportveranstaltung der Superlative, das zeigte dieser Samstag eindrucksvoll. Sechs Weltrekorde an nur einem Tag wurden hier verbessert, drei davon sogar in ein und demselben Rennen – so etwas gibt es wohl nur bei der IDM dank ihrer die verschiedenen Startklassen verbindenden Punktewertung. Zusätzlich fünf Europa- und vier deutsche Rekorde machten die Tagesbilanz sogar noch beeindruckender.
Für ein sehr seltenes Ereignis sorgte das Finale über 50m Brust. Hier schlug Taliso Engel (SG Bayer/Startklasse SB13) nach 28,54 Sekunden als Schnellster an, der sehbeeinträchtigte Paralympicssieger blieb damit 17 Hundertstel unter seinem zwei Jahre alten Weltrekord. Trotzdem reichte das für ihn in der IDM-Endabrechnung “nur” zu Bronze. Denn die beiden Kolumbianer Nelson Crispin Corzo (SB 6/34,95) und Carlos Daniel Serrano Zarate (SB 7/31,96) verbesserten die Bestmarken für ihre Startklassen im selben Lauf nämlich sogar noch etwas deutlicher und bekamen daher auch mehr Punkte.
So funktionieren Klassifizierung und Punktewertung bei der IDM
“So etwas gibt es nur bei der IDM, aber genau das macht diese Veranstaltung ja auch so besonders”, sagte Engel, der am kommenden Dienstag 22 Jahre alt wird. “Ich gönne den anderen beiden Jungs die bessere Platzierung voll und ganz. Und freue mich vor allem sehr über meinen eigenen Weltrekord, der war nämlich überfällig. Denn ich war in diesem Jahr sogar schonmal noch zwei Zehntel schneller, allerdings war eine Anerkennung als Rekord bei diesem kleineren Wettkampf in Nürnberg damals nicht möglich.”
Alle IDM-Ergebnisse auf einen Blick
Nun ist die Schwimm- und Sprunghalle im Europasportpark (SSE) ja auch so etwas wie das sportliche Wohnzimmer von Elena Semechin (geb. Krawzow) vom Berliner Schwimmteam, und als gute Gastgeberin steuerte auch der weibliche Star des deutschen Para Schwimmens am Samstag eine schöne Überraschung zum Gelingen der Veranstaltung bei. Die sehbeeinträchtigte Paralympicssiegerin und Weltrekordlerin im Brustschwimmen kraulte in 27,70 Sekunden nämlich zum deutschen Rekord über 50m Freistil. “Das habe ich heute absolut nicht erwartet. Aber jetzt diese Zeit zu schwimmen, ist für mich so viel wert", sagte die 30-Jährige. Denn sie war damit fünf Hundertstel schneller als bei ihrer Bestmarke aus dem Jahre 2019.
Gleiches hat sich Semechin für diese Saison auch noch für ihren Weltrekord über 100m Brust, ebenfalls aus 2019, vorgenommen. Und das ist alles andere als selbstverständlich nach 13 Zyklen Chemotherapie und Bestrahlung wegen eines Tumors im Kopf, der im Herbst 2021 bei ihr diagnostiziert worden war. Bis dahin war Semechins Stärke stets die aerobe Kapazität gewesen, also ihre starke Ausdauer in der zweiten Rennhälfte. Da die Blutbildung durch die Chemotherapie aber massiv gestört wurde, musste sich die Schwimmerin nun völlig neu erfinden, im Trainingsalltag voll auf Kraft und Explosivität umschwenken, um für Topergebnisse nun gleich auf den ersten Metern viel dynamischer zu werden. Dieser Prozess ist ihr mit Ehemann und Trainer Phillip Semechin bestens gelungen, wie solche Sprintzeiten zeigen. “Ich weiß, dass wir mit meinem Trainer auf einem guten Weg sind. Und ich bin sehr positiv für Paris eingestimmt”, sagte Elena. Und ließ noch ein besonderes Kompliment folgen: “Ich dachte, wenn schon mein Trainer zum Trainer des Jahres gewählt wurde, kann ich ihm ja ein kleines Geschenk machen. Und das ist mir gelungen, da bin ich sehr, sehr happy." Rund eine Stunde später ließ sie beim Sieg über 50m Brust mit 34,29 Sekunden noch eine weitere Topzeit folgen.
Im Finale der Para Swimming World Series, die in diesem Jahr zeitgleich zur IDM in der deutschen Hauptstadt ausgetragen wird, kraulte Maria Carolina Gomes Santiago (BRA/S12) die 50m Freistil sogar in 26,61 Sekunden und verbesserte damit ihren eigenen Weltrekord um vier Hundertstel. Und auch über 50m Brust sorgte Thess Routliffe (CAN/SB7) für einen Weltrekord (40,68) und Iona Winnifrith (GBR/40,71) für den dritten Europarekord auf dieser Strecke an diesem Tag, nachdem Landsfrau Alice Tai (41,27) und sie selbst (41,09) bereits in den Vorläufen unter der alten Bestmarke geblieben waren.
Und es gab sogar noch mehr zu bejubeln für Großbritannien: Faye Rogers (S10) schwamm über 200m Schmetterling in 2:26,39 Minuten zur neuen Weltbestmarke, Olivia Lily Newman-Baronius (S14) schaffte in 2:29,54 einen neuen kontinentalen Bestwert. Und William Ellard (SB14) steuerte über 400m Freistil einen weiteren Europarekord (4:09,02) bei. In Richtung Paralympics muss mit den Schwimmer:innen von der Insel also sehr stark gerechnet werden. Zumindest kündigte Rogers in Berlin schon mal an: „Ich kann auf jeden Fall noch schneller.“
Im Vorlauf über 400m Freistil verbesserte Pascal Rentsch (VSB 1980 Magdeburg/S14) die nationale Bestmarke von Julian Füllgraf (VfL Osnabrück) in 4:27,89 um über zwei Sekunden, im Finale holte sich Füllgraf den Titel des deutschen Rekordhalters in 4:27,08 aber umgehend zurück.
Auch Johanna Döhler (S13) vom Berliner Schwimmteam schwamm im 400m-Vorlauf in 4:53,92 zum deutschen Rekord und unterbot mit dieser Leistung auch die Normzeit für die Paralympics in Paris (4:54,17): “Es ist sehr surreal, dass ich das geschafft habe. Ich wollte die Norm schon im Vorlauf angehen und bin jetzt einfach total stolz”, sagte die 13-Jährige sichtlich aufgeregt nach dem Rennen. IDM-Veranstaltungsleiter Matthias Ulm freute sich, dass nach dieser IDM nach Elena Semechin, Mira Jeanne Maack und Malte Braunschweig nun noch eine vierte Berlinerin zur Nominierung vorgeschlagen werden kann. “Wer mit 13 in diesen Bereich vorstößt, kann als Riesentalent bezeichnet werden. Johanna wird in Paris vor allem wichtige Erfahrungen sammeln können. Wir erhoffen uns einiges von ihr in der Zukunft, werden sie aber trotzdem sehr behutsam aufbauen”, so Ulm.